Vom Liber Scivias bis zum Skywalk
Rheingau. „Pilgern heißt: mit den Füßen beten“ – das wissen alle, die schon mal auf den Spuren der großen Pilgerströme unterwegs waren. Während der „Camino“, der Pilgerweg nach Santiago de Compostella, mit immer neuen Rekordzahlen aufwartet, erhalten auch regionale Routen ständig mehr Aufmerksamkeit. Ein gutes Beispiel dafür ist der Rheingauer Klostersteig, der seit seiner Eröffnung im September 2016 zu den beliebtesten Pilgerwanderwegen in Deutschland zählt.
Im September 2017 wurde im Netz der spirituellen Routen ein neuer Mosaikstein hinzugefügt: der Hildegard von Bingen Pilgerwanderweg an der Nahe. Das Naheland ist Hildegardland, hier hat die berühmteste Frau des Mittelalters zeitlebens nicht nur gebetet, sondern auch gearbeitet und gewirkt. Der neue Weg folgt den Spuren ihres Lebens über 137 Kilometer von der Felsenkirche in Idar-Oberstein bis zur Benediktinerinnenabtei St. Hildegard in Rüdesheim-Eibingen.
Am Fronleichnam-Wochenende begleitete der Geisenheimer Gästeführer Wolfgang Blum erstmals eine Gruppe vier Tage lang auf der ersten Hälfte des Weitwanderweges. Die 24 Teilnehmer der Tour tauchten dabei nicht nur tief in die Gedankenwelt der Kirchenlehrerin ein, sondern genossen auch die wildromantische Landschaft entlang des Nahetales. Höhepunkt und Abschluss der Tour bildete der Besuch auf dem Disibodenberg, wo Hildegard mehr als 40 Jahre in einer Klause lebte, bevor sie ihr eigenes Kloster am Rupertsberg (im heutigen Bingerbrück) gründete.
Am Ende der vier eindrucksvollen Tage zeigten sich alle Pilgerwanderer tief beeindruckt. Und freuten sich, dass sie die Herausforderung gemeistert hatten. Insbesondere die Startetappe von Idar-Oberstein bis nach Herrstein zeigte, „dass Pilgern etwas mit Buße tun zu tun hat“. Die anspruchsvolle Route mit felsigen Auf- und Abstiegen belohnte unterwegs immer wieder mit prächtigen Blicken.
Am zweiten Tag, der in der kleinen Kirche von St. Johannisberg direkt neben dem spektakulären Skywalk bei Hochstetten-Dhaun endete, schlenderten die Pilger durch Niederhosenbach, neben Bermersheim und Waldböckelheim einer der drei vermeintlichen Geburtsorte der Heiligen. Hier wie an vielen anderen Stellen des Weges weisen insgesamt 32 Infotafeln auf Besonderheiten im Leben und Wirken der Heiligen hin. Sie basieren auf den Schriften der Ordensfrau und stellen jeweils ein Thema in den Mittelpunkt. Hinzu kommen 27 Meditationstafeln, die auf Hildegards mystischem Hauptwerk, dem Liber Scivias (Wisse die Wege) gründen.
Am dritten Tag rückte das Weinbaugebiet Nahe in den Mittelpunkt. Der Pilgerweg passiert nacheinander die Gemarkungen der Weinorte Martinstein, Weiler, Monzingen und Nussbaum, bevor er in Bad Sobernheim anlangt, bekannt als Felkebad und wegen seines Barfußpfades.
Der letzte Tag der Tour stand ganz im Zeichen des Disibodenberges. Bei einer Führung vom kleinen Besucherzentrum am Fuße des mystischen Hügels hinauf zu den weitläufig verstreuten Ruinen der ehemaligen Klosteranlage umwehte der Hauch von Hildegard die Pilgerwanderer. Hier erinnerten sich die Teilnehmer an den Anfang der Tour: „Pilgern heißt: mit den Füßen beten.“ Dass diese nach mehr als 70 Kilometern anspruchsvollem Weg in den zurückliegenden Tagen deutlich zu spüren waren, gehörte am Ende zu den fundamentalen Erfahrungen der Pionier-Pilgerwanderer. (Wolfgang Blum)