Wort zum Sonntag für den 28.06.2020
Der Mensch im System
Die Erde kreist um die Sonne. Wir sind im Sonnensystem. Aus diesem System kommen wir nicht heraus. Es liegt auch nicht in unserer Macht, dass die Erdachse um 23,5 Grad geneigt ist. Beim Umrunden der Sonne kommt mal der Norden, mal der Süden näher ans Licht. Jahreszeiten entstehen. Es gibt einen Wendepunkt im Winter und einen im Sommer. Inzwischen werden die Tage wieder kürzer und die Nächte länger.
Außer diesem großen kosmischen System gibt es zahlreiche Systeme, die für uns Menschen zur Rahmenbedingung werden. Wir alle haben ein Kreislaufsystem, das im Ökosystem zurechtkommen muss – ganz gleich, welches politische, wirtschaftliche oder religiöse System gerade herrschen mag. Darüber hinaus schaffen wir uns eigene Systeme wie wir den Tag beginnen, unsere Familie organisieren, die Ernährung gestalten und überhaupt das Leben und Arbeiten in eine Balance, also in ein System bringen.
Im Rahmen des unausweichlichen Sonnensystems gibt es viele ökologische und gesellschaftliche Systeme. Sie bedingen einander. Sie erlauben aber auch Vielfalt. Es bleibt ein Spielraum, um zu bestimmen, was für die einzelne Person „systemrelevant“ ist. Systemrelevanz entscheidet sich daran, in welchem System ich lebe.
Die Corona-Krise hat die Rede von der „Systemrelevanz“ medial verbreitet. Dabei entsteht der Eindruck, als gäbe es bloß ein System, dem alle folgen müssen. Sind Smartphones systemrelevant? Sie waren es lange nicht. Sollen sie zu meinem System gehören? Bin ich überhaupt noch frei, dies zu entscheiden?
Wir beten „dein Reich komme“ und „dein Wille geschehe.“ Wir ahnen ein göttliches System. Es hat eine ganz eigene Relevanz. Es folgt einer eigenen Logik. Es entspricht meiner Freiheit, mich in diesem System zu bewegen. Niemand zwingt mich. Aber es tut mir gut. Wenn ich bete, fühle ich mich wie ein Systembrecher. Ich erlebe „Systemrelativität.“ Ich hole Luft, öffne ein Fenster. Es gibt nicht nur einen Weg. Als Mensch lebe ich im System. Als Glaubender gewinne ich Freiheit.