Wort zum Sonntag am 17. November 2019
Wort zum Sonntag
Besondere Tage liegen hinter uns: 30 Jahre Mauerfall, Gedenktag des Heiligen Martin, Beginn der „5. Jahreszeit“. Tage, die augenscheinlich nicht so viel miteinander zu tun haben. Ich sah Bilder vom Mauerfall, Videos vom 11.11. am Fasnachtsbrunnen in Mainz und war im Kindergarten bei dem Laternenumzug dabei. Bei all den Eindrücken wurde mir das Besondere dieser Tage deutlich: die Verbundenheit vieler verschiedener Menschen untereinander. Kern jeder dieser Tage ist das Leben in seiner Vielfalt und die Liebe zum Nächsten. Nicht Abgrenzung, sondern die Öffnung hin zu allen möglichen Menschen.
In einer Welt, in der Präsidenten Mauern errichten wollen, PolitkerInnen Grenzen schließen möchten und eine paar Wenige so reich sind wie die Hälfte der Weltbevölkerung, scheint gerade die Perspektive für das Miteinander in eine Schieflage geraten zu sein. Wo wir geboren werden, in welchem Land oder in welche soziale Situation hinein, bestimmt mit steigender Tendenz, den Verlauf unseres Lebens. Doch was wäre, wenn morgen alle Karten neu gemischt werden? Wenn wir nicht wüssten, wo wir erwachen, wenn wir abends ins Bett gehen. Rafik Schami, ein syrischer Autor, beschreibt seine Heimatstadt, Damaskus, oft in seinen Büchern. Ich stelle sie mir vor und denke an Paulus und sein „Damakuserlebnis“. Eine Stadt, die ich damals gern gesehen hätte. Aber heute? Ich würde in Bürgerkrieg, in von Milizen beherrschten Stadtteilen, in Angst erwachen. Mein doch recht friedliches Leben wäre vorbei. John Rawls, einer der wohl ersten Rechtssoziologen, schreibt vom Schleier des Nichtwissens. Wie würden wir eine Gesellschaft gestalten, wenn wir nicht wüssten, in welche soziale Lage/Religion/Ethnie etc. wir hineingeboren wären? Wenn wir mit fast jeder Kombination leben könnten, hätten wir, grob vereinfacht, eine gute und gerechte Welt. Ja, wie sähe eine Welt aus, die frei ist vom eigenen Vorteil, weil wir gar nicht wüssten, welcher genau das wäre? Sicher eine Welt ohne Mauern. Auch Christus hat Mauern eingerissen, hat mit Sündern gegessen und an den Rand Gedrängten zurückgeholt. Ich wünsche uns, dass wir, wie Christus, bereit sind, Mauern einzureißen, statt sie zu errichten. Dass wir, wie Christus, in Liebe den Menschen begegnen, frei nach dem irischen Sprichwort „Ein Fremder ist ein Freund, den man noch nicht kennt.“ Denn was wäre, wenn du schon morgen hinter der Mauer erwachst?
Charlotte Meister, Gemeindereferentin (St. Elisabeth an Lahn und Eder)